Zerstörung Löwens und der mittelalterlichen Bibliothek 1914

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Zerstörung Löwens und der mittelalterlichen Bibliothek 1914

Beitragvon troupier suisse am Mi 14 Okt, 2009 07:39

Ich habe bemerkt, dass dieser Beitrag vom August 2009 offenbar auch im alten Forum abhanden gekommen ist, und in hier nochmals neu reingestellt

Die Zerstörung Löwens und seiner mittelalterlichen Bibliothek

Am 25. August 1914, genau vor 95 Jahren, wurde die Stadt Löwen in Belgien von deutschen Truppen niedergebrannt. Nach dem Einmarsch in das neutrale Belgien zum Zwecke des Angriffs auf Frankreich am 4. August 1914 stiessen die Truppen des Kaisers immer wieder auf Zivilisten die sich den Invasoren bewaffnet entgegenstellten. Völkerrechtlich durften Zivilisten nicht am Kampf teilnehmen, was die Deutschen ihrer Meinung nach dazu berechtigte drakonische Massnahmen zu ergreifen.

Die Härte der Deutschen fusste auf den Theorien des Carl von Clausewitz, der in seinem Buch "Vom Kriege" klare Leitlinien vorgab:

"Nun könnten menschenfreundliche Seelen sich leicht denken, es gebe ein künstliches Entwaffnen oder Niederwerfen des Gegners, ohne zuviel Wunden zu verursachen, und das sei die wahre Tendenz der Kriegskunst. Wie gut sich das auch ausnimmt, so muß man doch diesen Irrtum zerstören, denn in so gefährlichen Dingen, wie der Krieg eins ist, sind die Irrtümer, welche aus Gutmütigkeit entstehen, gerade die schlimmsten. Da der Gebrauch der physischen Gewalt in ihrem ganzen Umfange die Mitwirkung der Intelligenz auf keine Weise ausschließt, so muß der, welcher sich dieser Gewalt rücksichtslos, ohne Schonung des Blutes bedient, ein Übergewicht bekommen, wenn der Gegner es nicht tut. Dadurch gibt er dem anderen das Gesetz, und so steigern sich beide bis zum äußersten, ohne daß es andere Schranken gäbe als die der innewohnenden Gegengewichte."


Erstes Buch, Erstes Kapitel, Abschnitt 3 "Äußerste Anwendung der Gewalt"


Von Clausewitz vertrat die Ansicht, dass ein Krieg mit Schärfe und Härte möglichst kurz geführt werden müsse um Erfolg zu versprechen. Dazu gehörte auch der Druck auf die Zivilbevölkerung, die durch die Anwendung schärfster Massnahmen dahin gebracht werden sollte, ihre Regierung zum Friedensschluss zu drängen.

In diesem Sinne fanden auf dem Vormarschweg der deutschen Truppen in Belgien überall dort wo nach ihrer Auffassung unautorisierter Widerstand aufgekommen war sehr harte Aktionen statt. Ortschaften wurden niedergebrannt und zivile Geiseln erschossen. In Aarschot wurden im August 1914 156 Zivilisten exekutiert, in Ardenne 211, in Tamines 383 und in Dinant 665.

Bemerkenswert ist das Faktum, dass nach damaliger deutscher Denkweise jeglicher zivile Widerstand von Belgiern illegal war, während der illegale Einmarsch der Truppen des Kaisers in das neutrale Belgien in diesem Blickwinkel gänzlich ausgeblendet wurde. Indes fruchtete der Versuch mit Terror Ruhe zu schaffen wenig, sondern brachte nur noch mehr Hass hervor. Ein Höhepunkt der Repressalien bildet der Brand von Löwen.

Es ist bis heute umstritten was konkret zu den Ereignissen führte. Ein Auslöser mag der Angriff belgischer Truppen aus den Feldbefestigungen von Antwerpen gewesen sein, der die vorrückenden deutschen Truppen unerwartet traf und bei diesen einen temporären wilden Rückzug nach Löwen auslöste. Chaos entstand in der besetzten Stadt, und unter den Deutschen kursierten Gerüchte über vorgestossene Briten und Franzosen.

Schüsse fielen in den Strassen von Löwen. Rasch wurden Franktireurs (Partisanen) vermutet. Man war auf deutscher Seite durch diverse kursierende Geschichten von der Grausamkeit belgischer Zivilisten überzeugt. Eine dieser Geschichten berichtete von 30 deutschen Offizieren die im Lazarett von Aachen lagen, nachdem ihnen angeblich belgische Frauen und Kinder die Augen ausgestochen hätten.

Der Governeur von Belgien, General von Lüttwitz, erzählte den Gesandten Spaniens und der USA, dass in Löwen der Sohn der Bürgermeisters einen deutschen General erschossen habe, worauf sich die Bevölkerung gegen die Truppen erhoben habe, weshalb man die Stadt zerstören müsse. Der amerikanische Gesandte hatte die Geschichte von den Deutschen bereits mehrfach vernommen, wobei es sich jedesmal um eine andere Ortschaft drehte. Er hielt dazu sarkastisch fest, dass die Belgier offenbar ganz besondere Bürgermeisterkinder züchteten, ähnlich den syrischen Assassinen.

Um ein abschreckendes Exempel zu statuieren, wurden Löwen mit Plünderung und Brandschatzung überzogen. Man deportierte 42'000 Einwohner aus der Stadt. 1100 Gebäude wurden zerstört und 209 Einwohner getötet. Die 1425/26 gegründete Universität mit ihrer Bibliothek wurde vernichtet. An die 300'000 Bände, darunter wertvollste Handschriften, fielen der vorsätzlichen Zerstörung anheim. Die Vernichtung Löwens zog sich bis am 30. August hin. Berlin machte dafür die Belgische Regierung verantwortlich, und gewohnheitsmässig belgische Frauen und Kinder, die am Kampf teilgenommen hätten und deutschen Verwundeten die Augen ausstachen.

Der deutsche Ruf war nach Löwen nachhaltig geschädigt, denn man hatte den Alliierten wertvolle Munition für den Propagandakrieg geradezu in die Hände gedrückt. Der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg besuchte im November 1914 das zerstörte Löwen. Er entschuldigte sich für das Geschehene und sicherte eine Untersuchung zu. Artikel 247 des Versailler Vertrages verpflichtete nach dem Krieg Deutschland zur Wiederbeschaffung der vernichteten Bibliotheksbestände von Löwen.


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