von brady am Sa 26 Aug, 2006 07:53
Da hat sich also nun die deutsche Moralikone geoutet, wie das auf Neudeutsch so schön heißt. Der bärbeißige Günter Grass war also nicht bloß einfacher Soldat, sondern Flakhelfer bei der Waffen-SS.
Nette Blamage: Deutschland nicht Fußballweltmeister, und dann auch noch das!
Jetzt kommen sie also alle aus den Löchern: die, die Grass jahrzehntelang (wohl zu Recht) geprügelt hat, alle, die sich über die Jahre für die besseren Schriftsteller hielten, die Aufrechten, denen der spießige Maßstab protestantischer Moral das eigene Rückgrat ersetzt, seit sie ihn verschluckt haben – und die Ratten sowieso.
In der rauschenden Woge der Entrüstung, die über den Blätterwald schwappt, heißt es also wieder für die Vernunft: Land unter.
Wie viele von denen, die jetzt auf Grass einprügeln, sind nicht selbst Mitläufer, Opportunisten, geil auf ihre 5 Minuten Berühmtheit. Ausgerechnet Grass zum deutschen Michel zu transformieren, wie es in einem Bericht von SPIEGEL ONLINE unlängst geschehen ist, könnte man als geradezu impertinent bezeichnen. Mohrs vorgeblich pointierte - jedenfalls aber demagogische - angebliche Demaskierung vermittelt eine sonderbare Wunschvorstellung, wie deutsche Vergangenheitsbewältigung aussehen sollte: jeder der „vergifteten Generation“ sollte demnach nur noch als abschreckendes Beispiel dienen dürfen, ansonsten geräuschlos in der Versenkung verschwinden, jedenfalls aber den Mund halten. Dass einer sich gewandelt haben könnte, vielleicht klüger geworden ist in den Jahren – wo kämen wir denn da hin. Einmal Nazi, immer Nazi. Offensichtlich ist, wer denkt, gar umdenkt, automatisch verdächtig.
Und noch etwas: Grass ist zwar eine Person öffentlichen Interesses, aber noch lange kein öffentliches Eigentum. Grass jetzt gar eine Lebenslüge unterschieben zu wollen, verfängt nicht. Zuzugeben, daß dieser Schritt, seine jugendliche Unvernunft, ja Dummheit, öffentlich zu machen, Mut erfordert, fällt nur wenigen ein. Es ist nicht so, daß die amerikanischen Unterlagen – aus denen übrigens ersichtlich ist, dass Grass bei seiner Gefangennahme die Mitgliedschaft in der Waffen-SS sofort zugegen hat – bisher nicht zugänglich gewesen wären, nur hat sich offensichtlich bisher keiner darum gekümmert.
Außerdem, Grass ist in erster Linie Schriftsteller, und kein schlechter dazu. Schriftsteller neigen im allgemeinen nicht dazu, ständig öffentlichkeitswirksam Selbstgeißelung zu betreiben oder Bekenntnisse in Talkshows für die Glotze, dieses Präservativ der Realität ( © Dieter Hildebrandt) als Mittel der Selbsttheraphie zu inszenieren. Auch Schriftsteller haben, so banal das klingen mag, ein Anrecht auf Privatleben. Grass hat – soviel steht fest - keine Kriegsverbrechen begangen; daß er nach eigenen Angaben dem Regime nicht mit der von einem Mann seines Kalibers im nachhinein verlangten, gebotenen Distanz gegenüberstand, kann in der Tat kritisiert werden – nicht mehr und nicht weniger.
Im Nachhinein ist man immer klüger, sagt man. Leider entpuppt es sich zu oft als leere Phrase. Günter Grass allerdings ist eines jener wenigen Beispiele dafür, daß man tatsächlich klüger werden kann, wenn man nur will. Und dafür gebührt ihm Respekt.