Arroganz in der Szene

Allgemeines über die lebendige Geschichte.

Moderator: Hagelhans

Beitragvon gijoe am Di 17 Feb, 2009 13:13

Manchmal muss man sich schon zusammennehmen um keine sarkastischen Antworten zu geben. Gerade beim Klassiker " händer nöd warm ?" Kar ist es warm das merkst du T.... ja selbst. Aber dann bedenke ich immer, das der moderne Mensch nicht mehr gewöhnt ist Wollkleider zu tragen und der irrigen Auffassung ist, das Wolle bei 25 Grad zusätzlich wärmt.
Zum Glück gibt es heutzutage auf dem Reenactment Markt Kleider aus allerlei "Ersatz" Materialen das ein kostengünstiges Reenactment ohne schwitzen ermöglicht. Nun haben wir aber eine anderes Problem, die Wolldecke gibt in der Nacht nicht warm genug . Wolle ist schon ein schlechtes Material, unglaublich das die Menschheit nicht wegen Ueberhitzung und nächtlicher Unterkühlung ausgestorben ist.
Ganz nebenbei ist jeder der mit Kundenkontakt arbeitet täglich verblödeten Fragen und Anmerkungen ausgesetzt. Der Kunde ist König, also behält man seine Gedanken für sich.
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Beitragvon Seegras am Di 17 Feb, 2009 15:30

Blöde Fragen an Veranstaltungen finde ich nicht so schlimm. Ich gehe davon aus dass ich auf einer Veranstaltung bin um Fragen zu beantworten, und dem Besucher ist mitunter gar nicht klar wie leicht die Rüstung wirklich ist. Insofern hilft das durchaus um Bildungsmissstände zu verringern ;)

Was ich auf den Tod nicht ausstehen kann sind besserwissende Väter, die Ihren Zöglingen jeglichen Schrott komplett falsch erklären. Aber die Reaktion da ist immer schwierig, weil man eigentlich dem Kind was beibringen will, ohne den Vater gleich tödlich zu beleidigen.

Und schliesslich muss man noch in Rechnung nehmen, dass die hauptsächliche Bildung der Leute punkto Mittelalter von Film und Fernsehen kommt, genau gesagt von miserablen Hollywood-Filmen. Was natürlich wiederum gern auf "Mittelaltermärkte" kolportiert wird.


Aber ich glaube es ging hier weniger um das Verhalten an Veranstaltungen, als das im Forum. Abgesehen von schon erwähnten Problemen (es ist meine Freizeit, ich mach nicht deine Schularbeiten usf.) greift halt ein Punkt ganz besonders stark:

Es wird alles viel heisser gegessen als es gekocht wird.

Mit anderen Worten, alles wird vom Leser als viel beleidigender, arroganter, agressiver aufgefasst als es eigentlich gemeint ist.
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Beitragvon Seegras am Di 17 Feb, 2009 22:12

Mir ist nochwas eingefallen was da mitspielt: Kritikfähigkeit.

Wenn ich irgendeinen Reenactor auf ein Kleidungsdetail anspreche das meinerseits zweifelhaft ist, dann gibt es zwei verscheidene Varianten von Reaktionen.

Was ich erwarte ist eine dieser beiden:
- "Ja, ich weis, das ist nicht korrekt; ich trage das noch weil/ich habe das interpoliert von/ich warte auf Ersatz".
- "Nein, das ist so. Der Beleg ist da und da zu finden. Ich habe das nach derundder Vorlage gemacht".
Seltener gibts noch eine weitere Variante:
- "Ups! Das wusste ich gar nicht, werde ich nachforschen/ändern".

Das sind nicht nur die Reaktionen die ich von anderen Reenactoren erwarte, sondern ebenso von mir selber. Ich erwarte dass ich weis was an meiner Hose falsch ist, spätestens wenn ich sie länger als ein paar Monate habe; und ich erwarte auch dass andere das genauso von Ihrer Ausrüstung wissen, und ebenso reagieren. Tatsächlich frage ich öfters mal Leute was denn ihrer Meinung nach an ihrer eigenen Kleidung falsch sei. Die meisten haben eine ganz gute Ahnung. Wenn sie es nicht wissen aber ich, dann ists entweder ein extremer Anfänger oder irgendwas ist faul.

Und das gilt auch für den Umgang mit Besuchern. Wenn jemand auf etwas Zweifelhaftes hinweist ist das ernst zu nehmen. Spätestens wenn man mal von einem Museum für einen Anlass eingeladen wurde kann man es sich einfach nicht leisten anders zu reagieren; der Besucher der vor einem steht könnte ein Historiker sein... mit Fachgebiet Sachkultur... auf Bronzeguss... der erkennt das deine Gürtelschnalle 20 Jahre zu spät ist... und aus England...

Insofern habe ich wenig Verständnis für diese Wohlfühl-Postings nach dem Motto "sieht toll aus", wenn ich dann auf dem gleichen Bild Fehler oder wenigstens sehr zweifelhafte Dinge entdecke. Dann schreibe ich das auch; erst recht wenn vorher so ein paar dieser "finde ich toll"-Postings gekommen sind. Wer nicht weis was falsch ist wird nicht besser.

Tatsächlich schreiben wir hier alle vor Publikum: Nämlich mindestens vor den Leuten im Forum die jeweils grad eine andere Epoche darstellen. Auch denen möchten wir ein möglichst korrektes Bild "unserer" Epoche vermitteln, und da gehören eben im Mittelalter keine Holzklocks dazu etc.


Was aber manchmal auch noch kommt ist sowas hier:
- "Ich weis, das ist mir Scheissegal/ich will nix anderes"
- "Na und? Wusste ich noch nicht, will ich gar nicht wissen".
Und da ist natürlich der Laden meinerseits komplett unten.

Wer hier im Forum, unter Reenactoren selber sozusagen, keine Kritik verträgt, was wird dann der an Veranstaltungen oder gegenüber einem grösserem Publikum behaupten? Was denkt wohl obiger Historiker über Historiendarsteller im allgemeinen wenn er von einem was vorgelogen bekommt?


Ehrlich gesagt, ich glaube nicht dass wir wirklich abschreckend sind, ausser für eine bestimmte Klientel. Selbst wenn man hier im Forum mal eins gegen die Brust bekommt, so kommt nicht nur destruktive sondern durchaus konstruktive Kritik, und auch meist verschiedene Meinungen von verschiedenen Leuten.

Durchaus kommt auch mal Lob. Wenn jemand sagt "Die Gürteltasche ist fein, aber die Schnalle passt nicht" ist das zur Hälfte ein Lob; aber natürlich kann das nach dem erwähnten Grundsatz dass alles viel heisser gegessen wird komplett ignoriert werden und nur als Kritik gelesen werden.

Wer dann natürlich anfängt sich zu rechtfertigen und zu jammern er werde nur angegriffen, statt zu fragen wie ers besser macht hat logischerweise verloren. Dann sind wir alle Arrogant, wollen niemanden neuen haben weil wir ihm nicht die Schultern tätscheln, sind nicht hilfsbereit, weil wir erwarten dass er die Bücher selber liest oder Google selber bedient etc.
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Beitragvon elias am Mi 18 Feb, 2009 05:54

Seegras hat geschrieben:Mir ist nochwas eingefallen was da mitspielt: Kritikfähigkeit...


Deine Ausführungen treffen exakt den heiklen Punkt. Wüsste nicht, wie man es treffender formulieren könnte.
Der Pferd, der hat drei Beine. Auf jeder Seite eine. Und hat er einmal keine... umfallt
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Beitragvon Varuna am Mi 18 Feb, 2009 08:32

Schliesse mich Elias an, Seegras letzter Post spricht mir extrem aus der Seele! :smt041

http://www.constaffel-zuerych.ch/


Lästern ist keine Todsünde!
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Beitragvon cantarella am Mi 18 Feb, 2009 08:38

Ein grosses :smt041 für Seegras' beide letzten Posts!
Ich sehe das auch so, hätte es jedoch nie so perfekt formulieren können.
the only way to get rid of temptation is to yield to it
Oscar Wilde
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Beitragvon PeterBraubach am Mi 18 Feb, 2009 09:04

Ich kann mich Seegras Ausführung auch nur vollends Anschließen.

Für mich ist mühe geben im LH immer ein ganz wichtiger Punkt. Wenn ich irgendwann damit in die Öffentlichkeit will werde ich Menschen damit bilden, egal ob ich dort stehe und den Erklärbär spiele oder nur im Hintergrund bin. Der eine oder andere wird sagen: "So wars im Mittelalter".
Daraus erwächst eine Verantwortung die zumindest für mich die Konsequenz hat im Notfall mal auf etwas zu verzichten bzw etwas nicht zu machen das ich so (noch) nicht belegen kann.

pb
See first, think later, then test. But always see first. Otherwise you will only see what you were expecting. […] - Douglas Adams
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Beitragvon gijoe am Mi 18 Feb, 2009 10:01

Ja Seegras bringt es auf den Punkt. Nur leider haben viele nicht den Mut zur konstruktiven Kritik. Die Fehler die zum Himmel schreien sollte eigentlich jeder Reenactor der sich tiefer mit der Materie befasst selbst erkennen, und daran arbeiten sich zu verbessern. Natürlich kann man es auch wegwischen und den Kritiker als ewigen Stänkerer hinstellen .
Jeder kann sich noch auf irgendeine Art verbessern !
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Beitragvon Stefan vom Basilisk am Mi 18 Feb, 2009 10:04

Natürlich sollte jeder, der sich selber Reenacter nennt, offen für konstruktive Kritik sein.

Doch wiederum ist das nicht der Kern dessen, was ich mit diesem Thread anspreche. Ich rede vom Verhalten gegenüber Neueinsteiger, Laien, Interessierten und (unbedarften) Veranstalter.
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Beitragvon Gerald von Ameningen am Mi 18 Feb, 2009 10:13

Arroganz und Kritikfähigkeit

„Dummheit und Stolz wachsen auf dem gleichen Holz.“ Arroganz ist für mich ein Synonym für Stolz und damit für Dummheit. Ein bewusst restriktiver Umgang mit selbst erarbeiteten Fertigkeiten oder Kenntnissen halte ich weder für arrogant noch dumm sondern für absolut legal. Es ist die Art und Weise, der bereits zitierte Ton, die uns arrogant erscheinen lässt, oder eben auch nicht.

Ich verstehe „Kritikfähigkeit“ in zwei Richtungen. Die Erste – und oft gemeinte und trainierte - ist die, Kritik entgegen nehmen und konstruktiv damit umgehen zu können. Die Zweite ist die, Kritik so geben zu können, dass der Empfänger sie annehmen und konstruktiv damit umgehen kann. Denn wenn eine, Kritik nicht angenommen werden kann, kann sie auch nicht verarbeitet werden, sei sie auch noch so gut gemeint gewesen.
So könnte man einer Köchin sagen, ihre Suppe schmecke zwar phantastisch, sei aber versalzen. Oder man könnte ihr sagen, an der Suppe sei zwar zuviel Salz, schmecke aber phantastisch. Es darf sich jeder selbst fragen, ob die beiden Formulierungen absolut gleichbedeutend sind, oder welche von beiden Varianten besser empfangen und verarbeitet werden kann.
Ich glaube, wir können unsere Fähigkeit, Kritik zu üben, durchaus noch verbessern.


Freundliche Grüsse

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