gijoe hat geschrieben:Die gute alte Zeit" gibt es nur in unserer Phantasie
Absolut einverstanden. Hängt damit zusammen dass Menschen alles was in Ihrer Jugend passiert immer sehr viel optimistischer Wahrnehmen als es ist.
Ich bin immer sehr skeptisch wenn da irgendwie eine "gute alte Zeit" dahergeredet wird. "Man hat sich noch gegrüsst" -- und dem Nachbarn hinterhergespitzelt. "Alten Frauen den Sitz im Tram angeboten" -- wehe man tut es nicht, weil man z.b. selber ein nicht-offensichtlich sichtbares Leiden hat. usf.
Natürlich gab es quer durch die geschichte Sitten und Gebräuche deren Verschwinden man bedauern kann. Und genau da bietet die Geschichte auch eine Perspektive: was gab es mal, wie hat was funktioniert, und was wollen wir übernehmen, und was entsorgen wir. Manchmal hängen die Dinge miteinander so zusammen, dass es nicht möglich ist eine gute Sache zu behalten ohne die negativen Folgen dazu zu haben[1]. Manchmal wäre es einfach[2]. Und manchmal habe ich das Gefühl die Leute könnten mit einer Technologie einfach noch nicht umgehen [3].
Aber das nur am Rande.
Damit schwer verwandt ist das Thema Konservativismus, welcher eben keiner ist
http://seegras.discordia.ch/Blog/conservativism-isnt/ -- und ich schreibe da mehr über das "Heute" weniger über historische Ausprägungen.
In der Geschichte gibts dann so Fälle wie die sogenannt "Konservativen" welche in der zweiten Hälfte des 19Jh 500-Jährige Darstellungen von Penissen und Vaginas von Kathedralen heruntergerissen haben, weil es natürlich hinten und vorne nicht um "Bewahren" ging, sondern um neue radikal puritanische Ideen die damit verbrämt wurden dass es eben "früher besser gewesen sei". Und die Skulpturen mussten dann eben nicht nur verschwinden weil sie unzüchtig wären, sondern weil sie auch gleich der Beweis waren dass diejnigen die sich "Konservativ" nannten eben nicht konservativ waren, sondern aus dem Mund schäumende radikale Hetzer. Wobei nicht anzunehmen ist dass die herbeigeredete "gute alte Zeit" diejenige der Bilderstürmer im 16/17Jh darstellen sollte, aber wenigstens wärens da in passender Gesellschaft gewesen. Da hätten auch gleich die Hexenjagden gut dazu gepasst; aber die Zeit wo man Abtreibungsärzte wieder erschlägt kommt dann erst 100 Jahre später..
Und damit ich hier nicht nur über christlich-puritanische Radikale herziehe; genau dasselbe Benehmen haben wir natürlich auch anderswo. Scheissegal ob der Reformator nun um 1750 von sämtlichen anderen Richtungen des selben Glaubens als radikaler Ketzer verdammt wurde, der wollte ja nur "zurück zur guten alten Zeit"; und auf dem Altar darf alles geopfert werden, egal um wieviel mehr es die reale "alte Zeit" war. Fragen Sie den Buddha von Bamiyan. Ups, sorry, geht nicht mehr. Na, dann lesen sie es eben nach, in der Bibliothek von Alexandria...
Manchmal sinds auch nicht die guten "Alten Zeiten", sondern die schlechten "Alten Zeiten" die instrumentalisiert werden. Wenn es nach serbischen Nationalisten ginge könnten die Hälfte der Schweizer Bürgerkrieg gegen die anderen führen, weil unser geliebter Herzog Leopold 1386 bei Sempach ermordet wurde. Das ist natürlich überhaupt nicht vergleichbar, die Schlacht vom Amselfeld ist ja viel präsenter die war ja erst 1389.
Auf jeden Fall wurden und werden mit diesem Rückgriff auf erfundene "Alte Zeiten" die abscheulichsten Verbrechen und Barbareien begangen, und oftmals gleich noch die historischen Kunstdenkmäler vernichtet.
Ich glaube das ist auch eine Chance für uns, mit diesen erfundenen "Alten Zeiten" aufzubrechen. Klar ist "Lebendige Geschichte" per se schon mal romantisch; aber das soll uns nicht davon abhalten auch klar darüber nachzudenken und das unserem Publikum mitzgeben. Jede Epoche hat seine tiefschwarzen Seiten, auch wenn wir die nicht darstellen können und wollen; mindestens erwähnen können wir sie [4]. Und vielleicht bleibt dann hie und da was hängen, und wenn der nächste Demagoge von der "guten alten Zeit" schwafelt merkt dann der eine oder andere "Aber das war doch gar nicht so". Und das kann eigentlich nur helfen.
Seegras,
historio-politisch veranlagt, und ziemlich vom Thema abgekommen.
[1] Wer sich jemals gewundert hat dass die Frau nicht zuhause bei Herd und Kindern sitzt: Der Grund ist der dass es der Mann auch nicht mehr tut. Und der Grund dafür wiederum nennt sich Industrialisierung. Ich warte nur darauf dass Proponenten die die Frau am Herd haben wollen auch verlangen dass der Mann gefälligst zuhause arbeitet und am besten die ganze Industriealisierung rückgängig gemacht werden soll.
[2] Höflichkeit natürlich. Abseits von Tür-für-Frauen-aufhalten oder Sitz-im-Tram-anbieten. Viel elementarer.
[3] Das Handy. Schon mal darüber aufgeregt wie Leute im Zombie-Modus mit dieser Fernsteuerung am Ohr herumlaufen? Im Tram ihre Eheprobleme herumschreien?
[4] Um fürs Mittelalter mindestens etwas zu erwähnen: Judenprogrome, Ketzerverbrennungen...