Kairo: Museum geplündert

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Kairo: Museum geplündert

Beitragvon cantarella am Fr 04 Feb, 2011 08:05

Die etwas anderen Auswirkungen der Krise in Ägypten. Soeben in der Berner Zeitung gelesen. :smt076

Wenn Jahrtausend-Schätze verschwinden

Im Ägyptischen Museum waren Plünderer. André Wiese, Kurator der Tutanchamun-Ausstellung 2004 in Basel, glaubt nicht, dass nichts gestohlen wurde, wie dies die ägyptische Regierung behauptet.

Nie werde die Öffentlichkeit wohl das genaue Ausmass der Zerstörung im Ägyptischen Museum erfahren. Davon ist André Wiese überzeugt. Der Ägyptologe hat 2004 die Ausstellung «Tutanchamun – Das goldene Jenseits» im Antikenmuseum Basel kuratiert. Die Informationen, die von Kairo nach Europa dringen, findet er äusserst widersprüchlich.

Letzten Freitag sind zwei Gruppen übers Dach ins Museum in Kairo eingestiegen. Die ehemalige Direktorin des Museums, Wafaa al-Saddik, sprach gegenüber deutschen Medien von «vielen Figuren», die auf den Boden geworfen worden seien, darunter auch Götterfiguren aus dem Schatz des Tutanchamun, des jungen Pharaos aus der 18. Dynastie (ca. 1330 v. Chr.).

Der ehemalige Direktor des ägyptischen Antikendienstes, Zahi Hawass – er wurde letzten Montag in das neu geschaffene Amt des Antikenministers berufen –, dagegen relativiert: Auf seiner Website (http://www.drhawass.com) schrieb er Anfang Woche, nur eine einzige Figur aus dem Tutanchamun-Schatz sei beschädigt worden. In seinem neusten Eintrag gibt er nun zu, dass rund 70 Objekte betroffen seien. Die wertvollsten aber hätten die Plünderer übersehen, nichts sei gestohlen worden. Er schreibt, er sage die Wahrheit.

3000-jährige Mumien zerstört

Der Basler Experte André Wiese nimmt Hawass nicht ab, dass die Plünderer nichts hätten mitgehen lassen. «Das Interesse der ägyptischen Regierung ist gross, den Schaden kleinzureden.» Denn Museumswächter und Polizisten seien an den Plünderungen beteiligt gewesen. Staatsangestellte also, die laut der ehemaligen Museumsdirektorin pro Monat 250 ägyptische Pfund verdienen, rund 45 Franken; der Eintritt ins Museum kostet 100 Pfund.

Zudem ist kein einziger Gegenstand des Museums versichert. Und die Alarmanlage – so wird gemunkelt – habe gar nie richtig funktioniert. Für André Wiese ein Witz: Er erinnert sich an die pingeligen Auflagen, die ihm die ägyptische Regierung gemacht hat, als er für seine Ausstellung Sarkophage, Statuetten und Zepter als Leihgabe nach Basel holte. Ein Prunkstück der Ausstellung, den vergoldeten Sarg der Tuja, Tutanchamuns Urgrossmutter, versicherte Wiese damals für 200 Millionen Franken. Und nun soll sich gerade dieser Sarg unter den Kulturschätzen befinden, die Schaden genommen haben.

Angaben zu den Gegenständen, die tatsächlich zerstört oder gestohlen wurden, kursieren auf verschiedenen Internetseiten, etwa auf der von Ägyptologen geführten Site http://www.osirisnet.net.

Nur noch die Sockel

Wiese hat sich Bilder von der Verwüstung im Museum angeschaut, Bilder, die abgerissene Mumienköpfe neben Knochen zeigen und Teile von am Boden liegenden Zeptern, bei denen die Goldverzierungen fehlen.

Auch Tuja und ihrem Mann Juja soll der Kopf abgerissen worden sein. Die Eheleute, seit über 3000 Jahren mumifiziert, galten als die besterhaltenen Mumien überhaupt.

Auf einigen Bildern sieht Wiese nur noch die Sockel von zwei Statuetten aus Tutanchamuns Grab: Die eine hat die Gestalt einer Raubkatze, das Symbol der Göttin Mafdet, der Schlangenvernichterin, die andere die eines Papyrusschiffs. Von den vergoldeten Figuren des Königs ist nichts zu sehen. Wiese kennt die beiden nur 60 Zentimeter grossen vergoldeten Statuetten bestens. 2004 hatte er sie für den Ausstellungskatalog besprochen. Plünderer könnten ihre Goldelemente einschmelzen. «Es tut weh, wenn ich daran denke, dass solche Kunstschätze für immer verloren sein könnten», sagt Wiese.

«Büste soll in Deutschland bleiben»

Als Demonstranten auf dem Tahrir-Platz neben dem Museum von den Plünderungen hörten, haben sie eine schützende Menschenkette ums Museum gebildet. Nun bewachen Scharfschützen der Armee den klassizistischen Bau. Auch Museen in Luxor und in Memphis sollen ausgeraubt worden sein, was der Antikenminister Zahi Hawass wiederum dementiert.

Für André Wiese hat sich inzwischen auch die Frage erledigt, ob Deutschland die Büste von Nofretete den Ägyptern zurückgeben solle, wie Zahi Hawass dies letzte Woche erneut verlangte. «Die Museen in Ägypten sind zu unsicher», sagt Wiese. Nofretete werde wohl für weitere 100 Jahre in Berlin bleiben.

Quelle: http://www.bernerzeitung.ch/kultur/dive ... y/23406319
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Re: Kairo: Museum geplündert

Beitragvon Hitomi am Fr 04 Feb, 2011 08:40

Das regelt wohl für die nächsten Jahre die Diskussion ob Louvre, British, Met, Berlin und Wien ihre ägyptischen Altertümer und Kunstschätze retournieren.

Wie _dumm_ kann man nur sein? Tourismus ist eine der Haupteinnahmequellen für Ägypten? In 2008 besuchten 12.8 Millionen Touristen das Land. Egal welche Regierungsform oder Regime - auf die 11.1% BIP und 12% der Gesamtarbeitsplätze kann das Land nicht verzichten.
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Re: Kairo: Museum geplündert

Beitragvon Hagelhans am Fr 04 Feb, 2011 16:32

Daran was im Tal der Könige und all den anderen Grabungsorten jetzt passieren könnte, wenn alle verfügbaren Sicherheitskräfte in den Stätten gebraucht werden, möchte ich garnicht daran denken.

Zahi Hawass ist übrigens ausgesprochen gut im dementieren und relativieren. Er macht dies schon seit Jahrzenten aussergewöhnlich erfolgreich.
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Re: Kairo: Museum geplündert

Beitragvon Phil am Fr 04 Feb, 2011 20:27

Der Mensch! Losgelassen und in der Meute auftretend wird er zum geifernden, um sich schlagenden "Biest" (ich will nicht Tier sagen, das wäre für die Fauna beleidigend).
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Re: Kairo: Museum geplündert

Beitragvon troupier suisse am Sa 05 Feb, 2011 06:38

Wenn ich daran denke was dem kulturellen und historischen Erbe Ägyptens gerade im Schatten eines Umbruchs angetan wird, kriege ich ein Gefühl in der Magengegend wie im März 2009 als in Köln das Stadtarchiv zerstört wurde.
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Re: Kairo: Museum geplündert

Beitragvon Phil am Sa 05 Feb, 2011 12:35

Ich hoffe wirklich, dass es nicht soweit kommt. Umbruche, Revolutionen haben allzu oft schlimme Auswirkungen in kultureller Hinsicht mit sich gebracht. Nicht immer, aber leider oft.
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Re: Kairo: Museum geplündert

Beitragvon cantarella am Mi 09 Feb, 2011 07:41

Ein weiterer Beitrag: http://www.bernerzeitung.ch/kultur/dive ... y/19567701
Plünderungen und Zerstörungswut gehen um in ägyptischen Kulturstätten, Archäologen mussten ihre Grabungen wegen der Unruhen abbrechen. Auch die Schweizer Ägyptologin Susanne Bickel ist betroffen.
.....
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Re: Kairo: Museum geplündert

Beitragvon Hagelhans am Mi 09 Feb, 2011 14:31

Ikonoklasten! :smt076
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Re: Kairo: Museum geplündert

Beitragvon Wolfgang Ritter am Do 10 Feb, 2011 11:27

cantarella hat geschrieben:(snip)....Letzten Freitag sind zwei Gruppen übers Dach ins Museum in Kairo eingestiegen. Die ehemalige Direktorin des Museums, Wafaa al-Saddik, sprach gegenüber deutschen Medien von «vielen Figuren», die auf den Boden geworfen worden seien, darunter auch Götterfiguren aus dem Schatz des Tutanchamun, des jungen Pharaos aus der 18. Dynastie (ca. 1330 v. Chr.).

Der ehemalige Direktor des ägyptischen Antikendienstes, Zahi Hawass – er wurde letzten Montag in das neu geschaffene Amt des Antikenministers berufen –, dagegen relativiert: Auf seiner Website (http://www.drhawass.com) schrieb er Anfang Woche, nur eine einzige Figur aus dem Tutanchamun-Schatz sei beschädigt worden. In seinem neusten Eintrag gibt er nun zu, dass rund 70 Objekte betroffen seien. Die wertvollsten aber hätten die Plünderer übersehen, nichts sei gestohlen worden. Er schreibt, er sage die Wahrheit.....(snip)....
Als Demonstranten auf dem Tahrir-Platz neben dem Museum von den Plünderungen hörten, haben sie eine schützende Menschenkette ums Museum gebildet. Nun bewachen Scharfschützen der Armee den klassizistischen Bau. Auch Museen in Luxor und in Memphis sollen ausgeraubt worden sein, was der Antikenminister Zahi Hawass wiederum dementiert.

Für André Wiese hat sich inzwischen auch die Frage erledigt, ob Deutschland die Büste von Nofretete den Ägyptern zurückgeben solle, wie Zahi Hawass dies letzte Woche erneut verlangte. «Die Museen in Ägypten sind zu unsicher», sagt Wiese. Nofretete werde wohl für weitere 100 Jahre in Berlin bleiben.

Quelle: http://www.bernerzeitung.ch/kultur/dive ... y/23406319
Was füre eine Farce, der ist wirklich zu Recht in die Politik gegangen, denn in der Grandezza aller Politiker fährt er die übliche Salamitaktik: dementieren, bis man mit der Hand in der Geldbörse erwischt wird und dann aber nur jeden einzelnen Groschen eingestehen....Jetzt schreibt er nämlich auf seiner Homepage:
An Update on Antiquities
February 9th

I am pleased to report that an additional five objects that were stolen from the Qantara East Magazine in the Sinai were located and returned to the storage magazine on February 8, 2011. It seems that the thieves simply threw these five objects in the desert, and the police was able to retrieve them.

An Update on Antiquities

Ja klar. Der hat es wirklich nötig, Deutschland einen Betrug vorzuhalten und die NOfretete zurück zu fordern.

Ehrlich gesagt kann ich das Verhalten der Plünderer nur in Grenzen kritisieren, denn tatsächlich sind da viele arm, wie die buchstäbliche Kirchenmaus, da ist die Verlockung schon groß.

Keinerlei Verständnis habe ich aber für diesen Archäo-Zampano Hawass!
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Re: Kairo: Museum geplündert

Beitragvon Maja am Fr 11 Feb, 2011 10:55

Zampano ist geradezu noch eine euphemistische Umschreibung....eine Freundlin von mir ist Aegyptologin und kennt ihn ziemlich gut von diversen Grabungen und Fachveranstaltungen. Es gibt wohl keinen Archäologen, der korrupter und derart auf das eigene Image fixiert wäre wie Hawass. Beispielsweise die vor einigen Jahren auch in Basel gezeigten Exponate der Tutenchamun-Ausstellung wurden nur nach mehrstelligen "Freundschaftszahlungen" in Herrn Hawass' private Kasse ins Ausland geschickt. In Fachkreisen wird seine berufliche Kompetenz auch nicht gerade als brillant bezeichnet. Was er allerdings beherrscht, ist das werbewirksame Sich-Inszenesetzen. Das hingegen gibt's nicht nur bei den Archäologen......
Bedenke wohl, um was du die Götter bittest - sie könnten es dir gewähren!
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