Ein neues Buch für RAF- und Luftwaffen-Interessierte:
Der deutsche Historiker Dietmar Süss hat untersucht, wie sich der Luftkrieg auf die Gesellschaften von Deutschland und England ausgewirkt hat.
Der moderne Krieg fordert seine Opfer nicht nur unter der kämpfenden Truppe, sondern auch unter der Zivilbevölkerung. Die Zeit, da sich zwei feindliche Heere auf offenem Feld trafen und so lange bekämpften, bis der Sieger feststand, ist vorbei. Bereits im Ersten Weltkrieg gewann die militärische Auseinandersetzung durch den Krieg in der Luft eine neue Dimension. Mit dem Einsatz von Artillerie und Flugzeugen konnten auch Ziele weit hinter der Front getroffen werden. Die Zerstörung von Guernica im Spanischen Bürgerkrieg, in Picassos berühmtem Gemälde verewigt, markiert einen Wendepunkt.
Im Zweiten Weltkrieg forderte der Luftkrieg unter der Zivilbevölkerung grosser Städte einen schrecklichen Blutzoll. Schon 1940, bei den Luftangriffen auf Rotterdam und Coventry, kamen vorwiegend Zivilpersonen ums Leben, und die Flächenbombardemente auf Hamburg und Dresden 1943 und 1945 forderten Zehntausende von zivilen Opfern. Der deutsche Propagandaminister Joseph Goebbels trug dieser veränderten Sachlage Rechnung, indem er 1943, unmittelbar nach der Niederlage von Stalingrad, zum «totalen Krieg» aufrief.
Kulturgeschichte des Krieges
Damit wurde auch die Zivilbevölkerung an der sogenannten Heimatfront in die Kriegshandlungen einbezogen und zum «Abwehrkampf der deutschen Volksgemeinschaft» verpflichtet. Man schätzt, dass die Bombardierungen während des Zweiten Weltkriegs in England rund 60'000 und in Deutschland rund 600'000 Opfer forderten.Mit seinem neuen Buch «Tod aus der Luft» legt der deutsche Historiker Dietmar Süss eine vergleichende Studie vor, die Flächenbombardemente auf englische und deutsche Städte in ihren Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung untersucht. Süss hat während Jahren in den Archiven beider Länder geforscht und ein breites Spektrum von Quellen beigezogen, das von persönlichen Aufzeichnungen bis zu Archivbeständen der militärischen Führung, der städtischen Verwaltung und kirchlicher Institutionen reicht.
Es geht Süss nicht um eine Ereignisgeschichte, sondern darum, zu zeigen, wie durch die Wirkung der Flächenbombardemente in den Grossstädten eine «Kriegsgesellschaft» von eigener Prägung entstand und wie neue Formen der Krisenbewältigung entwickelt werden mussten. Damit wendet er sich dem bisher vernachlässigten Feld einer Sozial- und Kulturgeschichte des Krieges zu.
Auf der psychologischen Ebene ausgefochten
England war mit der im August 1940 eröffneten deutschen Luftoffensive zuerst massiv vom Krieg aus der Luft betroffen. Nach dem überraschenden Kollaps Frankreichs im Blitzkrieg hatte Hitler, der nicht mit dem Widerstand einer Persönlichkeit von der Statur Churchills rechnete, eine Zeit lang gehofft, England neutralisieren oder gar als Verbündeten gewinnen zu können. Nachdem die Royal Air Force den Grossangriff der deutschen Luftflotte in der «Battle of Britain» abgewehrt hatte, gelang es Hitler-Deutschland nie mehr, die für eine Invasion erforderliche Luftüberlegenheit zu erreichen. Dennoch lebte die englische Zivilbevölkerung in ständiger Furcht vor Angriffen aus der Luft, und gegen Kriegsende erhöhte die Ankündigung von «Vergeltungswaffen» noch die Spannung.Dietmar Süss zeigt, dass sowohl England als auch Deutschland seit den Zwanzigerjahren mit der Möglichkeit künftiger Luftangriffe rechneten. Mit minutiöser Ausführlichkeit stellt er dar, wie man in den beiden Ländern auf die Bombardemente reagierte.
Eingehend ist die Rede vom Bau von Schutzräumen, von der Unterbringung der Obdachlosen, von der Bergung und Beisetzung der Toten, von Evakuierungen. Bemerkenswert ist, dass in England, wo das parlamentarische System und die individuelle Meinungsfreiheit auch in Kriegszeiten intakt blieben, die zu treffenden Massnahmen jeweils kontrovers diskutiert wurden, was ihre Umsetzung verzögern konnte. In Hitler-Deutschland dagegen erfolgten die Anordnungen durch den Parteiapparat, der jede Zuwiderhandlung als defätistisch bezeichnete und mit schärfsten Strafen belegte.Hohe Priorität hatte in beiden Ländern, vor allem aber in Deutschland, wo nach 1942 die grossen Flächenbombardemente einsetzten, die Frage, wie die «Kriegsmoral» der Zivilbevölkerung intakt gehalten werden könnte. Die Kapitel, die Süss diesem Themenbereich widmet, sind die spannendsten seines Buches. Sie zeigen, dass moderne Kriege auch auf psychologischer Ebene ausgefochten werden, dass Faktoren wie die Erkundung der Volksstimmung und deren Beeinflussung durch Informationslenkung und Propaganda eine wichtige Rolle spielten.
Gefährliche Eigendynamik
Es versteht sich von selbst, dass auch hier die Hitler-Diktatur zu radikaleren Methoden greifen konnte, um den Abwehrwillen der Zivilbevölkerung zu stärken. Dies gelang indes nicht immer: Die Heroisierung und Verklärung des Opfertodes im Sinn der nationalsozialistischen Ideologie verlor an Wirkung, wo es bloss noch darum ging, das nackte Leben zu retten. Dass die Kirchenvertreter in der Regel an der Form «geistiger Landesverteidigung», wie das Naziregime sie betrieb, nach Kräften mitwirkten, ist heute schwer nachzuvollziehen.
Wenn die Alliierten gehofft hatten, mit ihrem «moral bombing» die Moral der deutschen Grossstadtbevölkerung kriegsentscheidend zu schwächen oder gar einen Aufstand gegen das Regime auszulösen, sahen sie sich getäuscht. Nach Kriegsende wurden in England wie in Deutschland hitzige Diskussionen über die Berechtigung und den strategischen Nutzen der angloamerikanischen Flächenbombardemente ausgefochten, die sich vor allem mit der Rolle von Arthur Harris, seit 1942 Chef des «Bomber Command», befassten. Diesen Diskussionen widmet Süss den Schlussteil seines umfangreichen Buches. Er zeigt, wie man sich in beiden Ländern um eine sachliche Interpretation der geschichtlichen Fakten und um die Versöhnung der beiden Länder bemühte.Es ist eine interessante, aber keine angenehme Lektüre. Die Schilderung konfrontiert den Leser, obwohl mit nüchterner, ja trockener Wissenschaftlichkeit vorgetragen, mit dem Tatbestand der Massenvernichtung und führt ihn in Grenzbereiche menschlicher Existenz. Wenn dem Buch eine Lehre zu entnehmen ist, dann die, dass moderne Kriege, einmal entfesselt, eine gefährliche Eigendynamik entwickeln, die rasch unkontrollierbar wird. Den sauberen Krieg, in dem Freund und Feind deutlich zu unterscheiden wären, gibt es nicht.
Dietmar Süss: Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England.
Siedler, München 2011.
720 S., ca. 46 Fr.
Die deutsche Luftoffensive: Vier Messerschmitt Me 109 über England, eine Aufnahme von 1940.
Bild: Keystone
Quelle: http://www.bernerzeitung.ch/kultur/buec ... y/19140230