Hallo Anubis,
ich kann Deine Frage auch nur für das Hoch- bzw. Spätmittelalter beantworten und
hierbei auch nur für den Bereich Schuh- bzw. Taschen- oder Futteralfunde.
Bei den Schuhformen ist es so, dass der Unterschied zwischen Schuhen von der Insel und solchen
vom Festland nahezu null tendiert (für den Zeitraum 1200-1500). Es gibt wohl einige "exotischere" Muster, wie z.B. die
verzierten Schnabelschuhe (welche ich auch rekonstruiert habe). Diese Schuhe sind aber
ohnehin so außergewöhnlich, dass es hierbei kaum Vergleichsfunde gibt. Das liegt daran, dass
der Handwerker im Mittelalter einige Monate bis mehrere Jahre auf Wanderschaft gegangen ist.
Somit konnte er sich viel Wissen aneignen und auch Wissen von einem Ort zum nächsten Ort
transferieren. Daher sind viele Schuhfunde innerhalb Europas oft sehr ähnlich (abgesehn von Mustern).
Der eigentliche Grund liegt eher in der Reenactorszene. Viele Darsteller beauftragen lieber
"außergewöhnliche" Sachen, als Standardware. Ich kenne ja zwischenzeitlich viele Darsteller
und weiß, was sie darstellen, wie sie gekleidet sind, etc. Und dennoch kämpft man oft gegen
Windmühlen, wenn sich Kunden auf ein bestimmtes Produkt eingeschossen haben.
Ebenso ist es bisweilen erstaunlich, dass Darsteller 10.000 EUR und mehr für eine
Rüstung ausgeben, aber darunter z.B. Schuhe tragen, die nicht einmal 50 EUR gekostet haben.
Viele meiner außergewöhnlichen Rekonstruktionen fertige ich in erster Linie für Museen oder
für mich selbst an, damit Besucher oder andere Darsteller die Bandbreite meiner handwerklichen
Fertigkeiten sehen und sehen was möglich war und heute noch ist. In der heutigen Zeit würde man diese Produkte als "Meisterstücke" bezeichnen.
Und dennoch zeige ich auf Veranstaltungen auch die komplette Bandbreite und beschreibe
auch den Unterschied von Standard- zu Exklusivware.
Ein weiteres Problem ist, dass eine Vielzahl der Handwerker in der Szene keine Archäologen,
sondern "Hobby-Handwerker" sind. Diese können auch nur auf die Literatur zurück greifen, die
es über den normalen Buchhandel gibt. Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich für ein
Museum arbeite und somit an Originale oder die entsprechende Fach-Literatur herankomme. Das ist
aber nicht bei vielen Handwerkern der Fall. Klar, ein Archäologe kennt sicherlich noch viele
andere Quellen, aber so lange diese nicht veröffentlicht werden, können die Handwerker
ihr Wissen nicht erweitern und es werden verstärkt solche Dinge rekonstruiert, die in der
"Mainstream-Literatur" vorkommt.
Im Lederbereich ist es ganz schwierig. Es gibt europaweit nur ganz wenige Spezialisten (Archäologen) für den
Werkstoff Leder. Und wir reden hier nicht von Restauratoren, davon gibt es sicherlich noch mehrere.
Aber Experten, die Literatur zum Thema Schuhe, Taschen oder Futterale schreiben, sind verschwindend
gering. Und wenn dann mal ein gutes Fachbuch heraus kommt, stürzt sich die ganze Szene darauf.
Im Falle der londoner Funde war es ebenso. Die Bücher vom Museum of London waren lange Zeit
das Einzige, was man zu dem Thema bekommen konnte.
Durch meine Arbeit im Museum habe ich heute natürlich andere Kontakte und komme auch immer mehr
an neue und unbekannte Quellen (z.B. Fach- bzw. Magisterarbeiten) und kann mein Wissen dadurch erweitern.
Bei dem Punkt "Jeder Archäologe hat mir bis jetzt gesagt, da sie nicht einfach aufs Festland zu übertragen sind.
Hier sind die Funde (Messerscheiden, Dolchscheiden usw.) aus dieser Zeit sehr wenig bis gar nicht verziert."
sehe ich das nicht ganz so. Bei den Messerscheiden gibt es ja mittlerweile auch zahlreiche Funde aus den Niederlanden oder auch deutsche Funde, die ebenso reich verziert sind, wie die Funde von der Insel.
Es ist aber immer schwer zu sagen, worauf die Meinung eines Archäologe basiert. Kennt er alle Funde, um solch eine Aussage treffen zu können? Ist er Spezialist auf diesem Gebiet? ... Das ist auch generell die Diskrepanz in der Archäologie. Viele Archäologen beharren auf ihrer oftmals vorgefertigten Lehr-Meinung (oftmals handelt es sich dabei um die Meinung ihrer Mentoren oder Professoren im Studium). Typisches Beispiel hierfür ist ja die Mähr von den "überlangen Schnabelschuhen", die man ans Bein binden musste, um überhaupt gehen zu können.
Und dann ist es so, dass viele sog. "Experten" auch oft auf das Wissen einiger weniger Kollegen zurückgreifen. Wenn man sich intensiv mit der Materie beschäftigt, kann man ganz häufig sehen, dass immer wieder die gleichen "Experten" zitiert werden und auf die gleichen Literatur verwiesen wird. Ich kann gar nicht sagen, in wie vielen Berichten und Büchern beim Thema Schuhe auf Texte gestoßen bin, die von einem Autor abgekupfert wurden.
Grundsätzlich bin ich auf Deiner Seite. Ich bin ebenso ein Freund des Purismus und predige oft im Verein, dass sich z.B. nicht jeder eine voll verzierte Scheide für eine Bauernwehr anfertigen lassen soll oder eine voll verzierte Truhe oder den oft zitierten Silberlöffel, etc.
Das verfälscht ebenso das Bild wie umgekehrt. Vielleicht gibt es aber auch einfach nur zu viele gute Handwerker und
zu wenig Kunden, die sich mit einfachen Dingen zufrieden gaben.
Gruß Sutoris
Zuletzt geändert von Sutoris am Fr 23 Aug, 2013 09:26, insgesamt 2-mal geändert.